Noch mal von vorne und ganz langsam

Von Hans M. Kuhlbrodt

In letzter Zeit macht unsere geliebte alte Schule vermehrt Schlagzeilen durch emotional und erbittert geführte Streitereien, die sich um die Zukunft der Schule und die Kurt Hahn’schen Erziehung drehen.

Pädagogik war nie mein Steckenpferd, aber ich habe mich dafür interessiert und manches aufgeschnappt. Kurt Hahn, das wurde mir bewusst, war einer der herausragenden Pädagogen des letzten Jahrhunderts. In fünf Jahrzehnten rief Kurt Hahn eine Reihe von Schulen und Programmen ins Leben, deren gemeinsames Fundament die Erlebnispädagogik war und die heute noch – durchaus erfolgreich – existieren. Hahn war Gründer und Mitinitiator von Internatsschulen: seit 1920, vereinigt in der Round Square Conference; heute etwa siebzig gymnasiale Internate und Landerziehungsheime weltweit, am bekanntesten Salem (BRD), Gordonstoun (U.K.), Anavryta (Griechenland), Athenian School (U.S.), International School Ibadan (Nigeria), weltweit über siebzig Schulen. — der Outward Bound Schools: seit 1941, Kurzschulen, vornehmlich an der See und in den Bergen gelegen, mit erlebnispädagogischem Programm von drei bis vier Wochen Dauer für Schüler, Studenten und junge Arbeiter; heute über vierzig Schulen, die meisten im anglo-amerikanischen Sprachraum. — des International Award for Young People: seit 1956, ein Abzeichen für sportliche, intellektuelle und soziale Leistungen, wie beim deutschen Sportabzeichen in den Stufen Bronze, Silber oder Gold zu erwerben; das älteste und bekannteste ist der britische Duke of Edinburgh Award; jedes Jahr nehmen etwa 100.000 Jungen und Mädchen (auch behinderte) im Alter von 14 bis 25 Jahren in mehr als 120 Ländern teil. — der United World Colleges: seit 1962, zweijährige Oberstufenkollegs mit internationaler Schülerschaft und internationalem Abitur (International Baccalaureate) in Wales, Kanada, USA, Italien, Norwegen, Venezuela, Swasiland, Indien, Singapur, Hong Kong, Costa-Rica, Bosnien-Herzegowina.

Neuerdings ist zu hören, daß Salem aus monetären, aber auch aus pädagogischen Gründen neu ausgerichtet werden müsste. Ein, bei der ASV-Mitgliederversammlung präsentiertes, neues pädagogisches Konzept allerdings beschränkte sich auf einige räumliche Änderungen im Schloss, nennenswerte pädagogische Inhalte, neu oder altbewährt, habe ich keine entdecken können. Im Folgenden habe ich mir also Gedanken gemacht, warum Kurt Hahns Pädagogik, die bislang ja immer äußerst erfolgreich gewesen ist, einer Erneuerung bedürfen könnte. Dabei stieß ich auf einige Punkte, die Kurt Hahn 1962 als Gefahr für die gesellschaftliche Entwicklung identifiziert hatte: “

Verfall der Fitneß und körperlichen Tauglichkeit: insbesondere zurückzuführen auf die modernen Methoden der Fortbewegung, z. B. Auto, Moped, Zug und Fahrstuhl; — Verfall der Initiative und Unternehmungslust: vor allem zu erkennen an der „Spektatoritis“, einer Krankheit, die stark durch neue Medien wie Radio, Film und Fernsehen gefördert werde; — Verfall der Phantasie und Erinnerung: entscheidend vorangetrieben durch die Rastlosigkeit des heutigen Menschen und durch seine wachsende Angst vor Stille, Einsamkeit, Besinnung; — Verfall der Sorgsamkeit und Vertiefung: maßgeblich herbeigeführt durch die schwindende Bedeutung des Handwerks und die zunehmende Sucht nach schnellen Resultaten und bequemen Lösungen; — Verfall der Selbstzucht und Entsagung: vornehmlich gefördert durch den materiellen Wohlstand und den leichten Zugang zu Alkohol, Drogen, Zigaretten und Tabletten; — Verfall des Mitleids und Erbarmens: besonders begünstigt durch die Schwächung des Gemeinschaftslebens und den sich ausbreitenden Subjektivismus, Individualismus und Egoismus“ (Hahn 1962, S. 301f.). Also – wenn man das Wort Internet dazu nimmt, dann scheint es mir eine brandaktuelle Analyse der Probleme der Gesellschaft der Gegenwart zu sein. Und wenn denn die Erlebnispädagogik ein geeignetes Mittel wäre, diese Probleme zu verbessern, warum sollte man sie ändern? Nun sind die wenigen Argumente, die ich zu hören bekam, stets pekuniärer Art gewesen, oder einfach verkehrt: Die demographische Entwicklung sei gegen uns. Meines Wissens gibt es heute so viele Kinder auf der Welt, wie nie zuvor. Und auch wenn die deutsche Mittelschicht finanziell erodiert, so gab es noch nie so viele und so finanzstarke Reiche, die das Salemer Schulgeld vergleichsweise problemlos bezahlen UND Stipendien für die weniger Betuchten finanzieren können. Die „Redundanzkosten“ durch die viele Fahrerei zwischen den Schulen? Auf einmal sollen die wenigen Kilometer zwischen den Schulen, die letztes Jahrhundert noch völlig unproblematisch gewesen sind, ein existenzielles Problem darstellen? Und – mal ganz im Ernst: die Lehrer anderer Schulen müssen auch in ihre Schule fahren – und wieder zurück. Ob das ein gutes Argument sein könnte, ein pädagogisches Erfolgsrezept zu kippen?

Nun gut – in einer Zeit, in der vieles einen Preis hat, was früher noch durch Werte definiert wurde erscheint es naheliegend, Kleinküchen aufzugeben und Großküchen zu fördern. Besser noch – die Küche gleich outzusourcen.

Unbestritten geht dadurch die Qualität der Speisen zurück. Die Ernährung der Schulkinder ist heutzutage ein derart großes Problem, daß sogar sogenannte Industrienationen staatliche Programme auflegen, um die Kinder wieder besser ernähren zu können. Das Heranziehen von Kindern und Jugendlichen mit Ernährung eingeschränkter Qualität? Das schadet allen Kindern, nicht nur den Salemern.

Noch was? Viel mehr Neues von Seiten der Erneuerer fällt mir nicht auf. Nur eines fand ich verwunderlich: daß unsere kühnen Rechner sich anschicken wollen, 20 oder mehr Millionen in eine gemietete Immobilie zu investieren. Und es ist ja auch nicht irgendeine Immobilie, sie gehört dem Land und wird intensiv touristisch genutzt.

Und was, wenn die für vier Jahre gewählte Landesregierung alte Entscheidungen und Verträge überdenkt? In Zeiten zweistelliger Prozentzahlen für die AFD möchte ich gar nicht daran erinnert werden, daß die Politik ja doch durchaus volatiler ist, als es das Haus Baden war, das ja auch zu Salems Gründern gehörte. Ich sach‘ Euch was: die schönsten Erinnerungen habe ich an Hohenfels und Spetzgart. Klar – Salem war nicht schlecht, keinesfalls. Aber schöner „gelebt“ habe ich auf der Burg und auf’m Spetz. Es erscheint mir vernünftiger, die vorhandenen Immobilien zu erhalten und zu pflegen. Darf ich daran erinnern: der letzte vermeintliche Exodus ist nicht so lange her und er hat die Schule deutlich mehr gekostet, als die Millionen, die jetzt für Salems Umbau angedacht sind. Wie war das jetzt eigentlich noch mal mit dem Hohenfels? Da gibt es doch dieses Hahn’sche Zitat: „Anfangs nahmen in Salem die Jüngeren am Leben der älteren Jungen teil. Wir wurden ihnen damit nicht gerecht“.

Dahinter steckt eine Erkenntnis, die direkt zur Hahn’schen Erlebnispädagogik geführt hat: „Im Gegensatz zu anderen Reformpädagogen – wie z. B. Montessori, Dewey und Piaget – machte sich Hahn keine großen Gedanken über das Wachstum der Kinder im Kindergarten- und Grundschulalter, die schienen ihm – quasi wie in einem Kokon lebend – weitgehend sicher und ungefährdet. Er sorgte und mühte sich vielmehr um die Entwicklung der Kinder im Jugend- und Reifungsalter, zumal er überzeugt war, daß hochgelobte und weitverbreitete Konzepte wie etwa die Psychoanalyse und die Tiefenpsychologie mit ihren Methoden der Introspektion, Assoziation und Reflexion der frühkindlichen Erfahrung das Problem der Pubertät nicht lösen konnten.

Was Hahn in die Diskussion einbrachte, war eine einfache, aber wirkungsvolle „Therapie“. Sie sollte den Jugendlichen von seinen inneren Nöten ablenken, ihn nach außen kehren und mit vielen verschiedenen Tätigkeiten in enge Berührung bringen. Im Mittelpunkt des Hahnschen Ansatzes standen also nicht – wie bei den Freudianern – Lust und Genuß oder – wie bei den Herbartianern – Unterricht und Belehrung, sondern Aktivität und Erlebnis. Durch bewußt herbeigeführte „Erlebnisse“ sollten die Jugendlichen lernen, sich selbst zu erkennen und ihre „grande passion“ zu entdecken. „Wir glauben“, erklärte Hahn, „daß jedes Kind einer ‚grande passion‘, einer schöpferischen Leidenschaft fähig ist, die zu entdecken und zu befriedigen unsere vornehmste Pflicht ist“ (Hahn 1930, S. 151). “ Nur in der richtigen Umgebung und abgeschirmt von den pubertierenden Jugendlichen war es möglich, die Talente der Jüngeren altersgerecht zu entdecken und zu fördern. Idealer Weise ausgerüstet mit einer eigenen Leidenschaft sollten die Kinder dann den Ablenkungen und den Versuchungen der Pubertät begegnen können. Mir erscheint das ein durchaus einleuchtendes Konzept zu sein und mit dem Hohenfels verfügen wir seit Jahrzehnten über die idealen Räumlichkeiten dafür. Ich sehe keinen Umstand, der hier eine durchgreifende Änderung erfordert, eine Verbesserung kann ich nicht mal in Ansätzen erkennen. Im Gegenteil: in der Aufgabe des Hohenfels sehe ich die Abkehr von den essentiellsten Elementen der Hahn’schen Erziehung.

Kurt Hahn also entwickelte dieses Konzept, „das der Sehnsucht des Heranwachsenden nach Abenteuer, Verantwortung und Bewährung entgegenzukommen suchte, ohne jedoch einer „autoritären Erziehung“ oder einer „Schmeichelpädagogik“ zu verfallen. „Gebt den Kindern Gelegenheit, sich selbst zu entdecken … Übertragt ihnen verantwortlich Pflichten, die ernst genug sind, um den Schulstaat zu zerstören, wenn sie schlampig durchgeführt werden … Laßt sie Triumph und Niederlage erleben … Sorgt für Zeiten der Stille … Übt die Phantasie“ ‑ das bestimmten die „Salemer Gesetze“ (Hahn 1930, S. 151ff.), und ihnen lag ein Erziehungsprogramm zugrunde, der den gesellschaftlichen Fehlentwicklungen entgegenwirken und den jungen Menschen zu sittlicher Stärke und ritterlicher Gesinnung führen sollte.“

Dieses Konzept führte Salem zum Erfolg, machte aus Salem das bekannteste und vielleicht auch mal das beste Internat Deutschlands. Und wenn ich die Welt heute so ansehe, dann scheint mir, daß wir MEHR Kurt Hahn brauchen, nicht weniger. Abgesehen davon, daß ich trotz wiederholtem, intensivem Zuhörens so gar kein neues pädagogisches Konzept erkennen konnte, scheint mir die Kurt Hahn’sche Erziehung heute wichtiger, nötiger, denn je. Vielleicht sollte die Schule versuchen mit den Alleinstellungsmerkmalen zu punkten, die ihr zu früherer Größe verhalfen? Natürlich ändern sich die Zeiten, aber auf absehbare Zeit werden Jugendliche mit der Pubertät zu tun haben und die Erziehung, die Charakterbildung wird auch weiterhin der Schlüssel und Kompass für das weitere Leben darstellen. Das Internet ist – wie es die Kanzlerin so treffend formulierte – noch Neuland für uns, die Finanz- und die Flüchtlingskrise auch. Vielleicht kann Kurt Hahn’s Lehre hierzu keine Fragen beantworten, aber seine Pädagogik könnte eine Generation hervorbringen, die nicht nur die richtigen Fragen stellt, sondern die auch einen Beitrag zu deren Lösung zu leisten in der Lage wäre.

Apropos ritterliche Gesinnung – diese vermisse ich gänzlich in der Diskussion der letzten Wochen und Monate. Wo ein offenes Gespräch und eine zielorientierte Diskussion gefragt gewesen wären, finden sich Geheimnistuerei und persönliche Diffamierungen der übelsten Sorte. Auch den Akteuren dieser unsäglichen Entwicklung täte ein „mehr Hahn“, ein „mehr Salemer Geist“ ganz gut. “

Die Welt“, sagte Napoleon, und Hahn stimmte ihm voll und ganz zu, „geht nicht an der Schlechtigkeit der Schlechten, sondern an der Schwachheit der Guten zugrunde“ (zitiert nach Skidelsky 1975, S. 192). Im Kern entsprang die Krise der Demokratie, wie Hahn sie für die Gegenwart diagnostizierte, dem Egoismus gemeinwohlferner Politiker und dem unpolitischen Individuum, das fraglos Gehorsam leistet und keine Nächstenliebe kennt. Ihm, dem pädagogischen Optimisten, schienen Macht und Moral durch Erziehung versöhnbar.“ Also seid stark, Ihr Guten, seid ritterlich und nicht fraglos gehorsam. Auf daß sich Macht und Moral wieder versöhnen und auf daß unsere Schule wieder auf einen guten Weg gebracht wird.

 

Hans M. Kuhlbrodt
Chirurg Hohenfels 1973 – 1976
Salem 1976 – 1981
Spetzgart 1981 – 1983

 

Schreibe einen Kommentar